Eine Blamage? Nein, wir haben den Roger Federer des Hockeys gesehen
Es hat gegen Österreich tatsächlich ein «Stängeli» gegeben. Nicht nur zehn, sondern sogar elf Tore. Aber eben nicht alle gegen eine Mannschaft. Sondern schön verteilt. Sechs für die Schweiz, fünf für Österreich. Der Pessimist findet viel Grund zur Kritik. Es darf doch nicht sein, dass das nominell bestbesetzte Schweizer WM-Team des 21. Jahrhunderts gegen Österreich 0:2 und 1:3 in Rücklage gerät, den Ausgleich zum 4:4 und zum 5:5 hinnehmen muss und erst durch ein geschenktes Powerplay 51 Sekunden vor Schluss den Siegestreffer erzielt.
Doch, das kann sein.
Mühsal gegen Österreich ist sogar ein gutes Omen. 2018 haben wir auf dem Weg in den WM-Final das zweite Gruppenspiel gegen die Österreicher sogar erst in der Verlängerung gewonnen (3:2).
Es gibt mehrere Gründe, Optimist zu sein.
Erstens: Andres Ambühl wird im September 41. Die letzte Minute tickt. Er stürmt noch einmal in die gegnerische Zone. Bernd Wolf (Lugano, nächste Saison Kloten) stört seinen Lauf – und kassiert eine Strafe wegen Haltens, die keine ist. Hat die Schweiz inzwischen den Bonus eines Grossen bei den Schiedsrichtern? Wir wollen nicht grübeln. Den Ausschluss nützt Nico Hischier 51 Sekunden vor Schluss zum 6:5-Siegestreffer. Andres Ambühl wird nach dem Spiel bescheiden, wie es seine Art ist, sagen:
Wo er recht hat, da hat er recht.
Zweitens: Die Schweizer erzielen fünf Powerplay-Treffer (zum 1:2, zum 3:3, zum 4:3 zum 5:4 und zum 6:5). Ein funktionierendes Powerplay ist ein Zeichen für a) Talent im Übermass und Überfluss, b) Spielfreude und c) ein intaktes Innenleben eines Teams.
Drittens: Nur ein intaktes Team schafft es, ein Spiel, das mit einer Larifari-Einstellung begonnen worden ist, doch noch zu gewinnen. Dass der Siegestreffer erst 51 Sekunden vor Schluss fällt, ist kein Zeichen von Schwäche. Sondern von Stärke. Der Wille war stärker als die Frustration.
Viertens: Roman Josi wie Roger Federer. Hockey ist ein Mannschaftsspiel. Aber hin und wieder entscheiden Einzelspieler eine Partie. Nicht viele sind dazu in der Lage. Einer der wenigen ist Roman Josi. Er hat die Schweizer vor einer Jahrzehnt-Blamage, einer Niederlage gegen Österreich, bewahrt. Sie liegen 0:2 und 1:3 im Rückstand und es ist Roman Josi, der dafür sorgt, dass die stotternde grosse helvetische Hockeymaschine doch noch in Gang kommt. Das 1:2 erzielt er im Powerplay. Zum 2:3 gibt er den entscheidenden Pass und dann trifft er ebenfalls in Überzahl zum 3:3. Damit sind seine Mitstreiter erst einmal aus dem Gröbsten heraus und werden nicht mehr in Rückstand geraten. Am Schluss fädelt der ehemalige SCB-Junior auch noch den Siegestreffer zum 6:5 ein. Im Powerplay.
Zum ersten Mal überhaupt treten die Schweizer in Prag mit einem Weltstar an. So wie die Schweiz auch schon vor Roger Federer ein paar aussergewöhnliche Tennisspieler hatte (u. a. Thedy Stalder, Heinz Günthardt, Jakob Hlasek oder Marc Rosset), so standen auch in der Vergangenheit herausragende Einzelspieler im WM-Aufgebot: Martin Gerber, Mark Streit oder Nino Niederreiter. Und natürlich schon achtmal Roman Josi. Er gehörte bereits 2013 und 2018 zu den WM-Silberteams.
Aber ein Weltstar ist er erst nach seiner letzten WM-Teilnahme von 2019 geworden. Millionär und Captain in Nashville war der WM-Captain zwar schon vorher. Aber die Auszeichnung zum besten NHL-Verteidiger (Norris Trophy) hat er erst 2020 gewonnen und mehr als 60 Punkte in einer Saison sind ihm vor 2019 nie gelungen.
Bei uns mag er längst ein Superstar sein – weltweit ist er es nach 2019 geworden. Globale Ausstrahlung hat einer eben nur, wenn er in der NHL zu den Lichtgestalten gehört. Und zu den Hablichen: Roman Josi hat bis heute etwas mehr als 60 Millionen Dollar brutto verdient und sein Vertrag bringt ihm bis 2028 jährlich weitere gut 9 Millionen ein. Er kann es sich leisten, SCB-Mitbesitzer zu sein.
Nicht, was seine Erfolge betrifft. Die wichtigste Trophäe (Stanley Cup) hat er noch nicht geholt. Es ist sein Stil, der ihn im rauen Eishockey wie eine Lichtgestalt erscheinen lässt. Eigenschaften wie «böse» oder «einschüchternd», die eigentlich bei einem Verteidiger unerlässlich sind – erst recht in der NHL –, pflegt er nicht. Braucht er als stürmender Verteidiger nicht.
Gegen die Österreicher zelebriert er wahres «Roman-Josi-Hockey». Viel mit der Scheibe laufen, viel Eiszeit und «Pausenplatzhockey» im besten Wortsinn: Seine Lust am Spiel ist bis hinauf in die Tribüne zu spüren. Er strahlt diese Leichtigkeit des Seins aus, die für das Tennis von Roger Federer so typisch war. Und das in einer intensiven, hektischen Partie, die aus den Fugen zu geraten droht. Spielerisches, brillantes, elegantes Hockey unter erschwerten Umständen. 2 Tore und 2 Assists, 27:47 Minuten Eiszeit.
Nach dem Spiel ist Roman ganz NHL-Profi. Rühmt den Gegner, mahnt, dass es bei einer WM keine leichten Spiele gibt. «Der Richter und sein Henker» mag ein wenig martialisch tönen. Aber der Friedrich-Dürrenmatt-Titel passt halt schon: Nico Hischier vollstreckt, was Roman Josi auf dem Eis für ihn vorbereitet hat: die Vollendung des spielerischen Prozesses.
Wie Roman Josi in Nashville führt Nico Hischier sein NHL-Team (New Jersey) als Captain. Auch er ist nach dem Spiel ganz NHL-Musterprofi und vergisst nicht zu betonen, dass er glücklich sei, der Mannschaft geholfen zu haben. Wo er recht hat, da hat er recht. Er hat geholfen: seine Bilanz: 3 Tore (zum 2:3, 4:4 und 6:5) plus 1 Assist (zum 3:3) und 20:02 Minuten Einsatzzeit.
Ja, die Frage ist berechtigt: Wo wären die Schweizer hier in Prag ohne Roman Josi und Nico Hischier? Aber die Frage braucht nicht beantwortet zu werden. Patrick Fischer hat Roman Josi und Nico Hischier im Team. Punkt.
Wie weit werden es die Schweizer mit «Spielertrainer» Roman Josi und Nico Hischier in Prag bringen? Die Frage nach dem «wie weit in diesem Turnier» scheint nach einem mühseligen 6:5 gegen Österreich etwas arrogant.
Aber es sind die Grossen, die am Anfang Mühe haben und sich dann zu steigern wissen. Wie wenig ruhmreich der Sieg gegen Österreich auch sein mag: Entscheidend ist, dass es eben doch noch gelungen ist, den Sieg zu erzwingen.
Und heute Montag kommt Kevin Fiala in Prag an und kann theoretisch schon am Abend gegen Tschechien (20.20 Uhr) eingesetzt werden. Nach Roman Josi, Nico Hischier und Nino Niederreiter steht mit Kevin Fiala ein weiterer NHL-Leitwolf im WM-Team und mit Andres Ambühl hat der mit Abstand älteste Stürmer im Team noch genug Schnauf für einen Sturmlauf in der letzten Minute: Schweizer, wie hoch wollt ihr noch hinaus?
PS: Einen Grund zur Sorge gibt es: Wie gut sind unsere Torhüter? Reto Berra war gegen Österreich ein «Pausenplatz-Goalie». Nach zwei Dritteln machte er wegen Nackenbeschwerden Akira Schmid Platz, der zu seinem ersten WM-Einsatz kam. Auch der Langnauer kassierte gleich ein «Pausenplatz-Tor» zum 5:5.
Und doch gibt es auch da Grund zum Optimismus: Mit einer coolen Reflex-Fanghandparade verhinderte er gegen NHL-Stürmer Marco Rossi das 5:6, das seine Vorderleute kaum mehr aufgeholt hätten. Der Treffer wäre als «unhaltbar» eingestuft worden. Wird er am Ende in Prag so zum Helden wie vor einem Jahr in New Jersey in den Playoffs gegen die Rangers?